Maritimes

Der Zeichner und das Meer


Lichtwechsel – der Wind reißt eine dunkle Drachenwolke auf und fleddert sie, stellt die Sonne frei für einen Moment. Im schneidend harten Gegenlicht glänzen feuchte Sande auf. Kontrastumkehr, Farbwechsel. Hart und klar die geschwundene Kontur der Randdühnen, Gräser zittern im Licht. Das hölzerne Seezeichen wird zum Scherenschnitt, der seine Geometrie gegen den Horizont behauptet. Schnell zieht erneut eine dunkle Wolkenwand auf. Wandel und Veränderung scheinen das einzig Beständige zu sein hier auf diesem Eiland im Meer.


Vor ihm liegt ein wahres Waschbrett aus zu Sand erstarrter Bewegung. Zeichnung und Relief, dessen Ordnung, Maßwerk und Regel nun lesbar wird. Tausende feinst ziselierte Wasserzungen, Rippeln, Netzwerke, deren flitzige Eleganz ihn fast schwindelig machen. Vorhin, als die Wasser hier im Priel noch über die Sande zum Meer hin abliefen, herrschte eine Art sensibles Chaos. Es hüpfte, gurgelte, sprudelte und glitzerte, ergriff all seine Sinne, verwirrte sie und trug mit einem wahren Orchester schnell dahinwuselnder Überkreuzungen und Überschneidungen jeglichen Versuch eines ordnenden Gedankens in alle Richtungen fort.


Nun jedoch, in dieser zeitweiligen Erstarrung, kommt man dem „Plan“ auf die Spur, liegt das Lesebuch der Natur, Kapitel „Strömungstechnik“, offen zutage. Leonardo hatte es vor 500 Jahren in der Tat vermocht, diese komplexen Strömungsgebilde fließender Wasser, die ein Hindernis passieren, zeichnerisch festzuhalten – lange vor Erfindung der Fotografie. Mit einem Anflug von Neid musste er konstatieren, dass ihm selbst diese Gaben nicht zur Verfügung standen.


In einiger Entfernung, durch einen nunmehr fast trocken gefallenen Priel von seinem Standort getrennt, hat das ablaufende Wasser, wegstrudelnd, ein ganzes Feld trichterförmiger Vertiefungen im Sand hinterlassen – Kolke, Gezeitentümpel, die entstehen, wenn das Wasser in seine strudelnden Bewegung den Sand spiralig mit sich fortreißt – Tidespuren in der Gezeitenlandschaft.


Still muss er in sich hinein lächeln… als hätten hier ein paar sehr große Kinder mit sehr großen Ammoniten-Kuchenförmchen im Sand gespielt… Formen also etwa die Elemente selbst sich die Wesen, von denen sie bewohnt werden möchten?


Linkerhand, wo die Flut sich zuletzt vorläufig erschöpfte, ein dunkler Saum aus Tang, Hölzern, Muscheln und unserem Zivilisationsmüll. Er hebt ein Schneckengehäuse auf, dann eine Austernschale. Episoden des Meeres, mineralisch erstarrte Bewegungen. Reproduktionen einer Matrix, Kalkterrassen, vom Wasser mit seinem Signum, der Spirale als der sich einrollenden Woge, überträgt. Das Wesen des Flüssigen – erstarrt, verdichtet, mineralisiert.


Diese Insel – sie wird ihm noch zu einem Ort der Urbilder.

12-Wirbel
06-LYN

Reisen mit Panoramio


An einem trüben, nasskalten Januarnachmittag im Jahre 2014 rief mich meine Tochter Laura an. Sie teilte mir mit, wie sehr sie sich freue, in wenigen Tagen mir ihrem Freund für 10 Tage nach Marokko in Urlaub zu fliegen. Da ich selbst im Jahre 2000 dort gewesen war, sollte ich ihr schnell noch ein paar Tips zu Land und Leuten und eventuellen Ausflugszielen geben. Am liebsten wäre ich mitgeflogen, war aber gerade nicht abkömmlich.

Ach, Marokko. Seinerzeit hatten es mir vor allem die fantastischen rötlich-ockrigen Granit-Formationen des Anti-Atlas in Südmarokko angetan, so sehr, dass ich es verabsäumte, noch mein zweites Ziel, einen Felsensporn, der weit in den Atlantik hinausragte, zu besuchen – eine stark verkleinerte Abbildung im Reiseführer hatte mich darauf aufmerksam gemacht. Ich startete meinen Rechner und versuchte per GOOGLE MAPS mehr über das seinerzeit versäumte Reiseziel zu erfahren. Mehr beiläufig entdeckte ich eine Zusatzfunktion namens PANORAMIO – und plötzlich standen, wie von Zauberhand, lauter briefmarkenähnliche kleine „icons“ über dem Landschaftsrelief, welche man durch Anklicken vergrößern und sogar ausdrucken konnte. Hier stellen Touristen ihre digitalen Fotos dieser Orte, versehen mit GPS-Daten, ins Netz.


Ich fand schließlich den gesuchten Felsensporn, der weit ins Meer ragt und pittoresk unterspült war – in Gestalt dutzender Aufnahmen verschiedener Autoren und von sehr unterschiedlicher Qualität, zum Teil durch übergroßen Missbrauch von PHOTOSHOP eher entstellt, aber das nur am Rande.


Immerhin war man mit Hilfe dieser vielen Dateien recht gut in der Lage, sich ein „plastisches Bild“ von einer Örtlichkeit zu machen. Neugierig geworden, klickte ich mich – fasziniert von diesen unverhofften Möglichkeiten des virtuellen Reisens – immer weiter nordwärts die Küste entlang, bis ich am Strand von SIDI IFNI ein altes, rostiges Schiffswrack entdeckte. Von diesem Wrack waren dutzende Fotos verschiedener Autoren über einen Zeitraum von etwa 20 Jahren zu sehen. Sie zeigten das Objekt nicht nur zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten, sondern auch bei Sonnenlicht oder bewölktem Himmel, von allen Seiten und dokumentierten sogar den Verfall des rostigen Schiffsrumpfs über einen Zeitraum von fast 20 Jahren.


Mittels dieses Mediums konnte man also ein viel umfassenderes Bild des Objekts gewinnen, als wenn man selbst zu einem einmalig gegebenen Zeitpunkt leibhaftig mit Kamera oder Skizzenbuch dort zugegen gewesen wäre.


Das Wrack von Sidi Ifni hatte mich gründlich angefixt… Schnell geriet ich in ein Fieber, das zunächst eine Woche lang andauerte: Etwa 18 Stunden benötigte ich allein für „einmal Afrika außen herum“ – mit sehr hoher Auflösung, um ja kein einziges Wrack zu verpassen. Natürlich fand ich bei meiner Recherche nicht jedes dieser Wracks gleichermaßen spannend. Der Drucker jedoch lief schnell heiß und so entstand im Nu eine stattliche Materialsammlung, denn auf Afrika folgte Kap Hoorn (so ergiebig, wie es zu erwarten war), dann Greater Britain und weiter. Sollte man nun jede Insel auf dieser Suche nach Wracks umrunden? Nach etwa einer Woche trat ein Gefühl der Sättigung ein, das digitale Völlegefühl machte sich breit, die Augen brannten. Die Materialsammlung künstlerisch auszuwerten, sprich: ihre Essenz in Zeichnung, Malerei oder Druckgrafik umzusetzen, würde mich wahrscheinlich schon jetzt etwa 3 Jahre Arbeit kosten.


Warum jetzt Wracks? Warum Erklärungen suchen? Emotional ist sofort eine Verbindung da, das Wrack steht für das Scheitern menschlicher Bemühungen. Es zeigt Vergänglichkeit und Vergeblichkeit, Ermüdung des Materials, einen besoffenen Steuermann, Fehleinschätzungen starker Stürme und manch anderen Fehler, die eine unbarmherzige Natur nicht verzeihen konnte.


Caspar David Friedrichs „Schiffbruch im nördlichen Eismeer“ fällt mir an dieser Stelle exemplarisch ein. Schon vor meinem Kunststudium hat mich dieses Bild tiefer berührt als vieles Andere.


Das Boot, das Schiff ist nicht nur eine Arche, sondern eine archaische Urform. Neben seiner Nutzanwendung ist es ein ästhetischer Gegenstand, der in seiner Formgebung dem flüssigen Element, der Woge, der Sinuskurve hingegeben ist.


Und wenn die Schiffe zerfallen, kommen sie diesem Urbild oft näher als im Zustand ihrer Nutzung. Übrigens sind aus den gleichen Gründen die Ruinen für die Künstler allemal interessanter als die Fertighäuser.


P.S.: Das Programm PANORAMIO wurde leider vor einigen Jahren eingestellt, vermutlich wegen digitaler Adipositas…

17-Kerala