Der Heilige Baum
Ein Gleichnis vom chinesischen Philosophen Tschuang Tse (ca. 400 J. v. Chr.), mit geringfügigen Änderungen zitiert aus: Tschuang-Tse „REDEN UND GLEICHNISSE“, Auswahl von Martin Buber, Manesse-Verlag 1951
Der Zimmermann Schih reiste nach dem Staate Thsi. Als er nach Khü-yüan kam, sah er einen heiligen Eichenbaum, der so groß war, dass ein Stier sich dahinter verbergen konnte; er hatte einen Umfang von hundert Spannen, ragte hoch über den Gipfel des Hügels empor und trug Äste, von denen manche ausgehöhlt für Kähne getaugt hätten.
Eine Menschenmenge stand davor und gaffte ihn an, aber der Zimmermann achtete seiner nicht und ging des Wegs weiter, ohne ihn zu beachten. Sein Geselle hingegen sah sich satt daran, und als er seinen Meister wieder eingeholt hatte, sagte er: „Seit ich in Eurem Dienst ein Breitbei gehandhabt habe, sah ich nie ein so prächtiges Stück Holz wie dieses. Wie geht es zu, Herr, dass Ihr nicht stehengeblieben seid, um es zu betrachten?“
„Es lohnt nicht, davon zu reden“, antwortete der Meister. „Das Holz taugt zu nichts. Mach ein Boot draus – es wird sinken. Einen Sarg – er wird faulen. Hausrat – es wird bald zerfallen. Eine Tür – sie wird schwitzen. Einen Pfeiler – er wird von Würmern zerfressen werden. Es ist ein Holz ohne Rang und ohne Nutzen. Darum hat es sein gegenwärtiges Alter erreicht.“
Als der Zimmermann nach Hause kam, träumte er, der Eichbaum erscheine ihm und spreche zu ihm: „Was ist es, womit du mich vergleichst? Sind es die vornehmen Bäume? Der Weißdorn, der Birnbaum, der Orangenbaum und andere Fruchtträger werden, sobald ihre Früchte gereift sind, geplündert und schimpflich behandelt. Große Zweige werden geknickt, kleine abgebrochen. So schädigen diese Bäume durch ihren Wert ihr eigenes Leben. Sie können ihre zugemessene Spanne nicht vollenden, sondern kommen vorzeitig in der Mitte ihrer Bahn um, weil sie in die umgebende Welt verstrickt sind. So ist es mit allen Dingen.
Eine lange Zeit war es mein Ziel, nutzlos zu werden. Mehrmals war ich in Gefahr, aber endlich ist es mir geglückt, und so kam es, dass ich heute nutzreich bin. Wäre ich aber damals von Nutzen gewesen, könnte ich heute nicht segensreich sein.
Überdies gehören wir beide, du und ich, zu derselben Art von Dingen. Tue darum diese Tadelsucht von dir ab. Ist ein nichtsnutziger Mensch die richtige Person, von einem nichtsnutzigen Baum zu reden?“
Ich betrachte einen Baum.
Ich kann ihn als Bild aufnehmen: starrender Pfeiler im Anprall des Lichts, oder das spritzende Gegrün von der Sanftmut des blauen Grundsilbers durchflossen.
Ich kann ihn als Bewegung verspüren: das flutende Geäder am haftenden und strebenden Kern, Saugen der Wurzeln, Atmen der Blätter, unendlicher Verkehr mit Erde und Luft – und das dunkle Wachsen selber.
Ich kann ihn einer Gattung einreihen und als Exemplar beobachten, auf Bau und Lebensweise.
Ich kann sein So-Sein und seine Geformtheit so hart überwinden, dass ich ihn nur noch als Ausdruck des Gesetzes erkenne – der Gesetze, nach denen ein stetes Gegeneinander von Kräften sich stetig schlichtet, oder der Gesetze, nach denen die Stoffe sich mischen und entmischen.
Ich kann ihn zur Zahl, zum reinen Zahlenverhältnis Verflüchtigen und verewigen.
In all dem bleibt der Baum mein Gegenstand und hat seinen Platz und seine Frist, seine Art und Beschaffenheit.
Es kann aber auch geschehen, aus Wille und Gnade in einem, dass ich, den Baum betrachtend, in die Beziehung zu ihm eingefasst werde, und nun ist er kein Es mehr. Die Ausschließlichkeit hat mich ergriffen.
Dazu tut nicht not, dass ich auf irgendeine der Weisen meiner Betrachtung verzichte. Es gibt nichts, wovon ich absehen müsste, um zu sehen, und kein Wissen, das ich zu vergessen hätte. Vielmehr ist alles, Bild und Bewegung, Gattung und Exemplar, Gesetz und Zahl, mit darin, ununterscheidbar vereinigt.
Alles, was dem Baum zugehört, ist mit darin, seine Form und seine Mechanik, seine Farben und seine Chemie, seine Unterredung mit den Elementen und seine Unterredung mit den Gestirnen, und alles in einer Ganzheit.
Kein Eindruck ist der Baum, kein Spiel meiner Vorstellung, kein Stimmungswert, sondern er leibt mir gegenüber und hat mit mir zu schaffen, wie ich mit ihm – nur anders.
Man suche den Sinn der Beziehungen nicht zu entkräften: Beziehung ist Gegenseitigkeit.
So hätte er denn ein Bewusstsein, der Baum, dem unseren ähnlich? Ich erfahre es nicht. Aber wollt ihr wieder, weil es euch an euch geglückt scheint, das Unzerlegbare zerlegen? Mir begegnet keine Seele des Baums und keine Dryade, sondern er selber.
Zitiert aus: Martin Buber „ICH UND DU“, Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen – 1995
Warum Bäume?
Die Hofstelle meiner Sippe im kleinen Bauerndorf Nartum, etwa 25 km entfernt vom ungleich bekannteren Künstlerdorf Worpswede gelegen, ist gesäumt und eingefriedet von einem halben Dutzend großer Eichbäume. Treffpunkte in der Feldmark, relevant für Verabredungen und andere Heimlichkeiten, waren die „Krüppelkiefer“, das „Haselwäldchen“ oder „Grabaus Eiche“. In der Feldmark hatte es einige lichte Kiefernwäldchen – hier lag man im hohen Gras, über sich das Rauschen der Winde in den Wipfeln – unvergessliche Melodie. In den 50er Jahren war ein Umweltbewusstsein noch kaum vorhanden – meine Kameraden und ich waren im Besitz mehr oder weniger umfangreicher Vogeleiersammlungen, die oft nur durch waghalsige Baumklettereien zu komplettieren waren. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass später, als man heranwuchs, markante Bäume als Balzplätze eine bedeutende Rolle spielten. So waren mir die Bäume auf vielerlei Weise vom Beginn an ans Herz gewachsen – wie sehr, merkte ich erst viel später, als ich intensiv zu zeichnen begann…
Gegen den Rat meiner Professoren an der Folkwangschule Essen, die unentwegt von einem „Umsetzen“ des in der Natur Gesehenen schwadronierten, folgte ich lieber „meinem dunklen Drang“, meiner Obsession des „GANZ GENAU HINSEHEN MÜSSENS“. Damals noch in Düsseldorf wohnhaft, ging ich oft in den Hofgarten oder in den Grafenberger Wald und zeichnete stunden-, manchmal tagelang an einem Baum. Die Genauigkeit dieser frühen Arbeiten folgte dem Vorbild meiner frühen Heroen Dürer und Grünewald und wurde von meinen Kollegen oft eher spöttisch belächelt. Der Baum war also auch in der Kunst meine erste Liebe und blieb es mit ziemlicher Ausschließlichkeit für etwa sieben Jahre. Es hieß damals in Kreisen um die Folkwangschule: Dohrmann? – Ist das nicht der mit den Bäumen?
Über „Nordsee“ und „Schiefer“ hatte ich die Bäume zeitweise zwar nicht vergessen, meinte aber, dieses Kapitel meines Werkes abgeschlossen zu haben. Ein Freund zeigte mir Anfang der 90er Jahre den sogenannten URWALD SABABURG in Nordhessen (etwa eine Autostunde entfernt von meinem Wohnort im Weserbergland). Hier, inmitten eines ehemaligen mittelalterlichen HUTEWALDES findet man so viele alte Eichen und Buchen wie schwerlich sonst irgendwo in Deutschland. Seitdem bin ich durchschnittlich einmal im Jahr dort gewesen und habe die alten Baumriesen bzw. ihre Ruinen in ihrem Verfall immer wieder fotografisch dokumentiert – und natürlich damit geliebäugelt, an das Thema meiner „ersten Liebe“ künstlerisch wieder anzuknüpfen. Allein – die anderen Motivwelten (vor allem der Schiefer) forderten damals meine ungeteilte Zuwendung.
Erst im Jahre 2017 habe ich mich wieder voll und ganz den Bäumen gewidmet – überwiegend mit dem Medium der Wasserfarbe. „Meine“ Bäume sind überwiegend alt und legen Zeugnis ab von einer langen Geschichte – oder sie haben es aus unterschiedlichen Gründen schwer, sich in ihrer Umgebung zu behaupten. Manchmal erscheinen sie wegen ihrer Verletzungen und Beschädigungen fast monströs; sie sind in Verwandlungen begriffen und oft scheinen sie mehr zu sein als einfach nur Baum…
KUNST erschien mir schon sehr bald im Laufe meines Wegs als der vergebliche Versuch, etwas festzuhalten, das ohnehin vergeht. Das nennt man wohl Melancholie.
Der Künstler mag geduldig sein. Das Papier, auf dem er einen Baum malt, ist sprichwörtlich geduldig. Der Baum selbst, so man ihn denn lässt, übersteigt diese vermeintliche „Geduld“ bei weitem. Seine Betrachtung entschleunigt.